Srebrenica: Zeitzeugen erinnern sich an das Grauen - [GEO]

2022-05-21 12:54:22 By : Ms. Eleanor Deng

Im April 1992 wechselt der Hauptschauplatz des Jugoslawienkrieges nach Bosnien-Herzegowina. In der Vielvölkerregion haben Kroaten und muslimische Bosniaken (die die größte Bevölkerungsgruppe stellen) die Unabhängigkeit der Teilrepublik ausgerufen – gegen den Willen der Serben. Daraufhin rücken Streitkräfte des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladic vor und kontrollieren bald zwei Drittel Bosniens.

Bei den Kämpfen kommt es immer wieder zu Exekutionen von Gefangenen sowie massenhaften Vergewaltigungen, vor allem durch Serben. Als die Bosniaken die in einem Tal gelegene Kleinstadt Srebrenica im Mai 1992 von den Serben zurückerobern, strömen aus dem serbisch beherrschten Umland 60 000 muslimische Flüchtlinge in den vermeintlich sicheren Ort und dessen Umgebung.

Im April 1993 erklärt die UNO Srebrenica samt angrenzenden Regionen zur Schutzzone und entsendet Blauhelm-Soldaten, darunter das niederländische UN-Bataillon „Dutchbat“. Die Serben (von den Muslimen in Anlehnung an frühere nationalistische Milizen „Tschetniks“ genannt) aber schließen Srebrenica ein. Im Juli 1995 marschieren sie in die Schutzzone ein und beginnen, die Stadt zu beschießen.

„Enklave“. Kalt und präzise, bezeichnet dieses Wort alle Unterschiede zwischen uns drinnen und denen draußen. Wir nannten Srebrenica niemals so, weil das absolut nichts mit unserer Wirklichkeit zu tun hatte. Wir nannten es „Kessel“, „Ende der Welt“, „Blinddarm“.

Radikale gab es auf beiden Seiten. Nicht alle Bosniaken in der Enklave waren nur nett. Sie spritzten sich Morphium, bevor sie spätnachts in die Berge gingen, um Serben zu töten. Man konnte das als Selbstverteidigung bezeichnen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die Serben wiederum benutzten das als Ausrede, um auf Zivilisten zu schießen.

Graziella G., Médecins Sans Frontières

Am 6. Juli habe ich meinen jüngsten Sohn beerdigt. Er wurde von einer bosnisch-serbischen Handgranate getötet. Als ich ihn beerdigte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es noch schlimmer werden könnte. Aber keine Woche später verlor ich den Rest meiner Familie; mein Mann und mein zweiter Sohn wurden auf der Flucht in die freie Zone von Tuzla gefangen genommen und getötet. Ich wartete mit Tausenden anderen Frauen in einem Flüchtlingslager auf ihre Ankunft, aber sie kamen nie.

Ich betrat das Krankenhaus am 6. Juli und habe es die nächsten fünf Tage nicht mehr verlassen. Es gab so viele Verletzte, dass ich ständig operierte. Nachts schlief ich höchstens zwei, drei Stunden. Das Stadtzentrum wurde stündlich bombardiert, und in den Randbezirken wurde gekämpft. Mir war vollkommen klar, was vor sich ging. Doch trotz aller Klarheit konnte ich mich nicht damit abfinden, dass dies das Ende war. Ich hatte immer das Gefühl, da käme noch etwas, jemand würde uns retten, die internationale Gemeinschaft würde uns nicht fallen lassen.

Unsere Beobachtungsposten wurden von Kräften der bosnisch-serbischen Armee angegriffen. Sie wurden eingekreist, und den Soldaten blieb nichts anderes übrig, als ihre Ausrüstung abzugeben.

Vom Hügel aus konnten wir sehen, was vor sich ging. Panzer feuerten auf das Dorf. Wir sahen zu, wie ein Haus nach dem anderen zerstört wurde. Dann entdeckten wir etwa einen Kilometer von Srebrenica entfernt eine Panzerkolonne, Schützenpanzer und verschiedene Arten von Fahrzeugen. Die Fahrzeuge der Tschetniks säumten die gesamte Straße nach Srebrenica. Wir konnten sehen, wie sie alle Dörfer in der Umgebung bombardierten. Sie benutzten Geschosse, die beim Einschlag auf ihr Ziel explodieren, darum standen die Häuser sofort in Flammen. Die Tschetniks bombardierten genau die Orte, an denen sich die meisten Leute befanden.

Wegen des serbischen Vormarsches auf Srebrenica fordert Thomas Karremans, der Kommandeur des niederländischen UN- Bataillons in der Sicherheitszone, Luftunterstützung durch NATO- Piloten an. Als die ausbleibt, ziehen sich die UN-Soldaten in ihr Hauptquartier im sieben Kilometer entfernten, ebenfalls in der Schutzzone gelegenen Potocari zurück. Einen Teil der Flüchtlinge nehmen sie auf Lkw mit; andere muslimische Zivilisten folgen ihnen zu Fuß. Doch in Potocari ist nur Platz für 5000 Flüchtlinge – 20 000 campieren bald außerhalb des Geländes.

Es kam der verhängnisvolle 11. Juli. Die ganze Zeit hieß es, man würde uns beschützen. NATO-Jets flogen über Srebrenica, aber sie unternahmen nichts. Ich fragte meinen Mann: „Worauf wartest du noch? Siehst du nicht, dass die Leute panisch werden, dass sie versuchen, durch die Wälder zu fliehen?“ Er antwortete: „Das wird die Welt nicht zulassen. “ Welche Welt? Man kann sich nur auf sich selbst verlassen. Verlasse dich nicht darauf, dass die Welt dich beschützen wird. Meine Tochter und ich mussten unser Haus verlassen. Mein Mann und mein Sohn blieben, sie wollten am nächsten Tag versuchen, durch die Wälder zu entkommen. Ich habe sie nie wieder gesehen.

Als die Bombardierung am 11. Juli einsetzte, flohen alle Flüchtlinge nach Potocari, zum Gelände des UN-Bataillons.

Am 11. Juli ordnete ich um 1.00 Uhr nachts die Evakuierung des Krankenhauses an. Ich ging zu einem der holländischen Stützpunkte in der Nähe und wollte sie überreden, die verwundeten Patienten aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Tschetniks 500 Meter weiter unten an der Straße; die Stadt war menschenleer. Ich konnte kein Krankenhaus voll verletzter Männer zurücklassen, weil ich wusste, dann würde es ein Schlachthaus werden. Ich stand vor einem verschlossenen Tor und Stacheldraht. Ein UN-Offizier kam und erklärte mir, sie wollten nicht in etwas verwickelt werden, das seinen Worten zufolge ein „Konflikt zwischen Muslimen und Serben“ sei. Da reichte es mir. Ich hatte nicht mehr die Zeit oder die Manieren, geduldig mit jemandem dieser Überzeugung zu sprechen. Ich war furchtbar wütend und schrie ihn an, sagte: „Wenn Sie jetzt nicht sofort dieses Tor aufmachen, reiße ich es nieder. Ich muss meine Patienten in Sicherheit bringen. “ Wahrscheinlich spürte er, dass ich zu allem bereit war, gar zur Waffe greifen würde. Er ließ uns hinein.

Den ganzen Tag sagten die UN-Truppen, es käme Hilfe, doch bei Einbruch der Dunkelheit war nichts passiert. Langsam sickerte durch, dass UN-Soldaten ihre Positionen verließen und sich widerstandslos zurückzogen. Wir waren schockiert. Sie hatten Srebrenica vollkommen entmilitarisiert; bosniakische Soldaten mussten ihre Waffen abgeben. Und nun machte die UN einen Rückzieher.

Tausende Menschen strömten nach Potocari. Die einen kamen zu Fuß, die anderen trafen auf weißen UN-Lastwagen aus Srebrenica ein: In Trauben hängend hielten sie sich an den Seitenwänden des Anhängers fest oder saßen auf dem Führerhaus, sodass die Soldaten hinter dem Lenkrad große Schwierigkeiten beim Fahren hatten. Sie stiegen von den Lastwagen, die sogleich in das UN-Lager fuhren, oder versammelten sich auf einem kleinen Areal zwischen drei Fabrikgebäuden. In den verlassenen Hallen suchten sie Zuflucht vor der kommenden kalten Nacht; allerdings blieben die meisten Menschen draußen, im Freien.

Die Menge wurde von Minute zu Minute größer, weil Muslime aus den Bergen kamen und zu uns stießen. Die Leute waren in sehr schlechter Verfassung. Sie hatten kein Wasser, keine Lebensmittel, kaum Kleidung. Sie hatten Angst, das konnte man sehen. Es war schrecklich.

Meine betagten Eltern gingen zum UN-Stützpunkt, meine zwei Brüder und ich liefen in den Wald. Das Ganze war ein Riesendurcheinander. Man bewegte sich einfach mit der Kolonne Ständig wurde auf Leute geschossen – es kam zu einer Massenpanik, überall starben Leute. Wir hatten keine Ahnung, wo wir waren. Es war wie am Tag des Jüngsten Gerichts.

Wir waren inmitten von Tausenden Männern, von Jugendlichen bis zu ausgezehrten Greisen. Wir liefen in Richtung Tuzla, dem nächsten muslimischen Territorium. Zu Fuß sind es von Srebrenica gut 100 Kilometer nach Tuzla, und man muss jede Menge unebenes Gelände, Berge, Flüsse und sogar Minenfelder passieren. Es würde kein leichter Marsch werden, aber wir hatten keine andere Wahl. Wir wollten leben.

Wir mussten die Flüchtlinge aufteilen, weil es so viele waren. Etwa 4000 bis 5000 brachten wir in Potocari auf unserem Gelände unter, dann war es bis zum Bersten voll. Vor dem Gelände befanden sich noch weitere 15 000 bis 20 000 Personen, und wir nutzten zwei oder drei ausgebombte Fabriken in der unmittelbaren Nähe des Geländes.

Es herrschte absolutes Chaos. Frauen liefen weinend umher und suchten ihre Kinder, Angehörigen oder Freunde. Kinder riefen nach ihren Müttern. Frauen, Männer und Kinder mit Schusswunden und anderen Verletzungen fragten nach einem Arzt. Leute fielen in Ohnmacht. Bei einigen Schwangeren setzten wegen der Anspannung vorzeitig die Wehen ein.

Alle in der Fabrik lagen auf dem Boden: Alte, Kinder, Frauen. In einer Ecke brachte eine Frau ihr Kind zur Welt, in einer anderen lag eine im Sterben. Was sollten wir mit ihr tun? Sollten wir sie hinausschaffen? Es war nicht so, dass einer gekommen war, um sie zu töten, aber sie starb einfach aus Angst. Eine Frau hatte entbunden, ihr Kind schrie, und einmal wusste ich gar nicht, ob es tot oder lebendig war. Die Frau hatte nichts zu essen, um den Säugling zu stillen. Eine andere Frau hatte ihr Kind vor zwei Tagen zur Welt gebracht und flehte inständig, jemand möge ihr einen Tropfen Milch oder Zucker für das Baby geben. Überall schrien und starben Kinder. Eine Frau erhängte sich aus Angst.

Bei jeder Explosion hörte man einen kollektiven Schrei. Panik brach aus, die Menge setzte sich in Bewegung, begriff aber schnell, dass sie nirgends hinkonnte.

Am 12. Juli trifft General Mladic in Potocari ein. Manche seiner Soldaten beginnen, die Flüchtlinge zu bedrohen und zu schlagen. Darunter sind auch paramilitärische Einheiten. Sie werden in den nächsten Tagen viele der schlimmsten Verbrechen begehen.

Am 12. Juli kam Mladic mit seiner Leibwache und anderen ranghohen Soldaten auf das UN-Gelände. Er ging auf muslimische Flüchtlinge zu, er hatte ein Kamerateam dabei, und die Soldaten begannen dann, Süßigkeiten in die Menge zu werfen. Als Erstes haben sie gefilmt, was Mladic zu den Leuten sagte, und die Leute, die vor ihm standen, waren ein bisschen verängstigt. Dann hat der Kameramann die Filmkamera ausgeschaltet, und danach haben die Soldaten den Leuten die Süßigkeiten wieder weggenommen und sie getreten, sogar die Kinder.

Die Serben verlangten, das Lager zu inspizieren, um sicherzustellen, dass keine bosnischen Kämpfer da waren. Den Holländern wurde befohlen, die Waffen abzulegen. Das taten sie auch. Als serbische Offiziere in der Halle erschienen, wo Hunderte Flüchtlinge bis zu den Knöcheln im Schmutz standen, begannen die Frauen zu schreien, einige fielen in Ohnmacht, die Kinder fingen an zu weinen.

Als die Tschetniks zu den Fabriken kamen, fingen die Leute an zu schreien. In der Nacht auf den 12. Juli schalteten sie das Licht aus, nur in einer Ecke brannte eine Lampe. Die ganze Nacht über waren Schreie zu hören. Man wusste nicht, woher sie kamen. Kinder, Frauen und Männer – jeder schrie. Als ich mich am Morgen umsah, stellte ich fest, dass die Hälfte der Leute verschwunden war.

Drinnen war es sehr dunkel. Und hinten in der Fabrik hörten wir seltsame Geräusche, also sind wir hingegangen, und als wir dort waren, haben wir eine Frauenstimme gehört. Wir haben die Taschenlampen angemacht und zwei serbische Soldaten gesehen. Einer stand Schmiere, und der andere lag auf einem Mädchen, die Hosen runter. Sie sind weggerannt. Das Mädchen lag auf einer Art Matratze. Auf der war Blut, und auch das Opfer war blutverschmiert. Es stand komplett unter Schock, drehte völlig durch.

Die ganze Nacht über brachten sie Frauen und Mädchen weg. Ein neunjähriges Mädchen wurde vor aller Augen vergewaltigt. Ich war keine zehn Meter davon entfernt und hörte es schreien.

Ein etwa drei Monate altes Baby schrie. Ein Tschetnik befahl seiner Mutter, es zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Da schnitt er dem Baby den Kopf ab.

Ich sah, wie Leute den Verstand verloren. Ich sah ungefähr sieben Menschen, die sich in der Fabrik erhängten – sechs Männer und eine Frau, die, so hieß es, vergewaltigt worden war.

Es gab Muslime, die sich erhängt haben, weil sie entsetzliche Angst hatten. Die anderen sahen nicht hin. Manche nahmen Kleidungsstücke, um sich aufzuhängen.

Die Leute auf dem Gelände begingen Selbstmord, warfen erst ihre Kinder aus dem Fenster und sprangen dann selbst hinterher. Sie wollten auf keinen Fall den Serben in die Hände fallen. Wenn du das siehst und dann ein verletztes Baby in die Hand gedrückt bekommst, und du siehst, wie die Leute runterspringen, das vergisst du nie. Niemals.

Manchmal werde ich gefragt: „Du hattest

ein Gewehr, warum hast du nicht geschossen?“ Aber was wäre passiert, wenn ich einen Serben erschossen hätte? Wir wussten, dass die Serben zu diesem Zeitpunkt verrückt waren. Es gab nichts mehr, was ich hätte tun können.

Wir waren zum Schutz der Zivilbevölkerung hier. Hätten wir das Feuer auf die Serben eröffnet, hätten wir unseren UN-Status verloren, und man hätte uns als Feind betrachtet. Wäre das geschehen, wäre jeder Schutz für die Bevölkerung und die UN-Mitarbeiter unmöglich gewesen.

Jeder hatte Angst. Die Holländer hatten Angst. Wir hatten Angst, aber ich weiß nicht, wer mehr Angst hatte. Ich glaube, wir hatten viel mehr Grund, Angst zu haben, als die Holländer. Soweit ich weiß, sind die alle sicher heimgekommen.

Ratko Mladic und Thomas Karremans vereinbaren, dass die muslimischen Flüchtlinge mit Bussen aus Potocari in von bosniakischen Truppen kontrollierte Gebiete um Tuzla gebracht werden sollen. Jeeps der Holländer sollen sie eskortieren.

Die Serben näherten sich und sagten, wir sollten keine Angst haben, sie würden uns nach Tuzla bringen. General Mladic trat vor die Fabrik. Er sagte, wir sollten uns bereithalten, um nach Tuzla zu gehen. Es würden Busse kommen. Er sagte, alle Frauen und Kinder könnten problemlos gehen, nur Männer über 16 Jahre nicht. Er wurde von holländischen Soldaten eskortiert.

Ich erinnere mich, dass General Mladic zu den Flüchtlingen sprach und ihnen noch mal sagte: „Keine Panik. Ihr seid alle in Sicherheit. Ihr werdet alle in die Gebiete evakuiert, die unter der Kontrolle der Armee von Bosnien-Herzegowina stehen. Zuerst die Alten und Gebrechlichen, dann die Mütter mit den Kindern und dann auch die anderen. “

Die Familien fingen an, auf die Lkw zu steigen. Alle schrien. Kinder weinten. Alle bewegten sich gleichzeitig auf den Eingang zu, wo auch Busse standen.

Eine der Forderungen von Mladic an uns war, die Männer zwischen 16 und 60 Jahren auszusondern, um zu überprüfen, ob es sich um Kriegsverbrecher oder um Soldaten handele. Es war offensichtlich, dass sie die Männer von den Frauen trennen wollten. Unter den gegebenen Umständen war nichts falsch an diesem Verfahren, denn bei einer großen Anzahl von Gefangenen ist es normal, sie zu trennen. Aber ich hatte eine Ahnung – nein, ich hatte meine Befürchtungen –, was den Männern danach widerfahren würde.

Major Robert F., Dutchbat, stellvertretender Bataillonskommandeur

Wir passierten die Linie der holländischen Soldaten, und ich sah sofort, dass die Tschetniks in einer Reihe entlang der Straße standen. 100 Meter weiter standen die Busse und Lastwagen bereit für die Deportation. Mein Sohn und ich gingen langsam, Arm in Arm; 50 Meter hinter uns waren andere Leute und vor uns ebenfalls, immer in Zweierreihen. Als wir zu den Tschetniks kamen, sagten sie sofort, mein Sohn müsse nach rechts und ich geradeaus gehen. Wir hörten nicht auf sie und gingen einfach zusammen geradeaus weiter. Aber das war nicht gut; sie folgten uns sofort und sagten, er müsse nach rechts und ich weiter geradeaus.

Ich wollte das nicht, aber sie packten ihn. Ich zog ihn an mich, und sie zerrten ihn weg. Ich flehte sie an, ihn loszulassen: „Bitte, tun Sie das nicht, er ist mein einziges Kind, er hat keinem etwas getan; wenn jemand schuldig ist, dann ich – nehmen Sie mich. “ Sie schimpften, schubsten und schlugen mich, ich konnte nichts tun. Sie waren stärker und bewaffnet, und sie nahmen mir mein Kind.

Es ging sehr, sehr hart zu. Manche wurden getreten oder sogar geschlagen. Sie haben ihre Waffen benutzt, Gewehrkolben, und sie überall getroffen. Als sie die Männer wegholten, war es noch schlimmer, weil die Kinder versuchten, sich an den Vätern festzuklammern.

Mein Vater war direkt vor mir. Vor dem Panzer bog er mit den anderen Männern zusammen nach links ab. Ohne darüber nachzudenken, lief ich mit den Frauen und Kindern geradeaus weiter. Nach ein paar Metern streckte sich eine Hand nach mir aus und ergriff meine rechte Schulter. Ich drehte mich um. Es war ein serbischer Soldat, ein Nachbar von mir aus Srebrenica. Er steckte mir eine Decke zu und machte mir ein Zeichen, sie mir um den Kopf zu legen. Er rettete mir das Leben.

Die Männer wurden von den Frauen getrennt und in einem weißen Haus etwa 400 Meter außerhalb unseres Haupttors verhört. Mir wurde immer häufiger gemeldet, dass die Verhöre mit körperlicher Gewalt durchgeführt wurden, deshalb schickte ich Männer zu dem Haus, um zu überprüfen, ob die Anzahl der Männer, die hineinging, der entsprach, die herauskam. Wenn sie herauskamen, wurden sie in einen blauen Bus gebracht, und dieser Bus verließ mit den anderen Bussen die Enklave. Wir wollten den blauen Bus eskortieren, wurden aber von serbischen Kräften aufgehalten, und wenn dieser Bus zu einer Kolonne von 20 Bussen gehört, die durch ein Dorf fährt, und man nur ein oder zwei Jeeps als Begleitfahrzeuge hat, sieht man erst außerhalb der Stadt, dass ein paar Busse verschwunden sind. Es gelang uns also nicht, den blauen Bus zu eskortieren.

Sie verwendeten normale Verkehrsbusse. Sie fuhren bei dem weißen Haus vor, brachten die Männer in die Busse und fuhren wieder weg. Etwa 15 oder 20 Minuten später kamen sie zurück.

Es wurde immer ernster und brutaler. Am Abend des 12. Juli war klar, dass wir nicht mehr die Kontrolle hatten, denn unsere Patrouillen wurden von bewaffneten Serben aufgehalten, die unseren Leuten zahlenmäßig überlegen waren.

In der Nacht des 12. Juli tauchten serbische Soldaten auf und verlangten, dass ich ihnen meine Waffe gebe, die Schutzweste und den Helm. Ich sagte nein.

Da lud einer der serbischen Soldaten sein AK-47 durch, richtete den Lauf auf meinen Kopf und sagte, ich sollte mein Zeug hergeben, sonst würde ich erschossen. Also habe ich meine Ausrüstung abgegeben, meine Waffe, meine Schutzweste, alles.

Es war eine schlimme, entsetzliche Nacht, voller Angst und Geschrei. Man hörte jemanden schreien, und dann standen 15 000 Leute, auf und schrien alle zusammen. Können Sie sich 15 000 Menschen vorstellen, die gleichzeitig schreien?

Nur am ersten Tag, am 12. Juli, schickten die Offiziere des niederländischen Bataillons tatsächlich Soldaten und Fahrzeuge mit, um ein paar von den Bussen mit Bosniaken zu eskortieren. Aber auf dem Weg stießen laut Major Franken seine Männer auf Behinderungen durch serbische Kämpfer. Sie schikanierten sie. Sie beschlagnahmten ihre Fahrzeuge. Am folgenden Tag, dem 13. Juli, ging die Deportation weitgehend ohne jede Eskorte oder Präsenz der UN-Truppen weiter.

Insgesamt verloren wir etwa 33 Fahrzeuge. Sie wollten niemanden in der Nähe haben, das war offensichtlich. Ich beschwerte mich mehrmals bei einem Colonel Jankovic, der auf serbischer Seite die zentrale Figur zu sein schien, und er meinte, er werde sich darum kümmern, fügte aber hinzu, dass er nicht alle Milizen unter Kontrolle habe. Sie würden sich darum kümmern, wenn ich ihnen genaue Zahlen gebe, aber das taten sie nie.

Ich suchte den stellvertretenden Kommandeur des holländischen Bataillons auf und bat ihn, dieser Art von Evakuierung, die streng genommen keine war, Einhalt zu gebieten; es war eine sehr grausame Deportation. Ich weiß noch, dass Major Franken sagte: „Unmöglich. “ Und: „Ich tue mein Bestes. “

Er bat mich, die Evakuierung zu stoppen, weil er befürchtete, dass die Serben alle töten würden. Ich erwiderte, dass auch ich um die Männer fürchtete, er aber im Grunde von mir verlangte, mich zwischen Tausenden Frauen und Kindern und den Männern zu entscheiden.

Hasan Nuhanovic hatte seit April 1993 als Dolmetscher bei der UN-Mission gearbeitet. In dem Chaos, das auf den 11. Juli 1995 folgte, versuchten wir, seinen 19-jährigen Bruder Muhamed aus der Enklave zu schmuggeln, nachdem wir begriffen hatten, dass die Männer aus Potocari irgendwo zwischen Bratunac und Tuzla spurlos verschwanden.

Wir setzten seinen Namen auf die Liste der einheimischen Mitarbeiter, und ich brachte sie zu Major Franken, der sie vor der Weitergabe an die serbischen Offiziere überprüfen wollte. Muhameds Name war der letzte, der 18. auf der Liste. Franken studierte die Liste gründlich, um dann mit einem Blick über seine Brillengläser hochmütig zu sagen: „Dieser junge Mann arbeitet nicht für die UN!“ und seinen Namen zu streichen, wohl wissend, dass er ihn in den sicheren Tod schickte.

Ich habe gesehen, völlig erstarrt, wie er sich über den Tisch beugte, die eine Hand lässig in die Hüfte gestützt, und nach einem neonrosafarbenen Filzstift griff. Unter den kurzen und energischen Strichen war noch immer der mit blauem Kuli geschriebene Name zu erkennen – so groß wie ein ganzes Leben.

Mein Konvoi aus Potocari bestand aus sieben Bussen. Entlang der Straße sah ich überall Leichen und gefangene Männer aus Srebrenica. Viele Frauen in meinem Bus erkannten die Gefangenen. Zwischendurch stiegen Tschetniks in unseren Bus und durchsuchten ihn nach Geld oder Schmuck.

Wir hörten, dass einige Fahrer in Ordnung waren und nicht anhielten, um serbische Soldaten einsteigen zu lassen, aber unserer gehörte nicht dazu. Serbische Zivilisten und Soldaten stiegen ein und verlangten alles, was Wert hatte. Ich sah, wie Leute aus anderen Fahrzeugen in unserem Konvoi weggeschleppt wurden. Wir hatten entsetzliche Angst.

Selbst als wir unser Ziel erreicht hatten, riefen Gruppen von Tschetniks nach Namen und suchten Leute aus bestimmten Dörfern und Städten. Leute wurden an den Straßenrand und außer Sichtweite gezerrt.

Ein Tschetnik packte mich am Arm und befahl, ich solle ihm hinter einen Bus folgen. Ich sah, dass niemand in diese Richtung ging. Er sagte, dort sei ein Invalide, der Hilfe brauche. Ich hatte Angst, weil ich wusste, dass er log. Er meinte, ich könne gleich wieder zurück, aber als er seine Aufmerksamkeit jemand anderem zuwandte, riss ich mich los und tauchte in der Menge unter.

Wir mussten zu Fuß bis nach Kladanj gehen. Ich sah jede Menge Tote am Straßenrand liegen. Einem Mann hatte man die Kehle durchgeschnitten, aber er war noch nicht ganz tot. Er schnappte immer noch nach Luft. Die Tschetniks wollten, dass wir uns von den Straßenrändern fernhielten und nicht in die Nähe des Baches gingen, weil es gefährlich sei. Aber das verlangten sie nur, weil dort überall Leichen lagen.

Am 12. Juli erhielt ich einen Anruf von Bernard Pécoul und Eric Goemaere, den Generaldirektoren von MSF Frankreich und MSF Belgien, die mir mitteilten, dass freiwillige MSF-Mitarbeiter vor Ort gesehen hatten, wie Leute in Busse gebracht wurden, und dass sie ein schlechtes Gefühl dabei hatten.

Es war 10.00 Uhr, und ich wusste, dass in Den Haag am Mittag ein kleines parlamentarisches Treffen über das gefallene Srebrenica anberaumt war. Ich rief in Den Haag an, um mit Parlamentsmitgliedern zu sprechen, und bat sie, den Schutz von Zivilisten auf die Tagesordnung zu setzen. Inzwischen war es 11.00 Uhr, die Abgeordneten waren bereits im Sitzungssaal. Ich nahm ein Taxi und kam 45 Minuten später in Den Haag an.

Bei meiner Ankunft hatte der Minister sein Briefing bereits beendet. Es hatte nicht einmal eine halbe Stunde gedauert. Auf meine Frage an die Abgeordneten, worüber sie gesprochen hätten, sagten sie: „Wir haben über die Situation der holländischen Truppen gesprochen. “

Dann fragte ich: „Haben Sie über den Schutz der Zivilbevölkerung diskutiert?“ Ihre Antwort: „Wir wollten dieses Problem nicht ansprechen, weil Familienangehörige von Soldaten im Raum saßen. Es hätte der Eindruck entstehen können, dass uns die holländischen Soldaten dort drüben nicht wichtig sind. “

In den Niederlanden war es zu der Zeit unmöglich, über dieses Thema zu sprechen. Es herrschte ein totaler Blackout, absolute Lähmung.

Dr. Jacques de M., Generaldirektor Médecins Sans Frontières, Niederlande

Für die niederländische Bevölkerung ging es darum, dass „unsere armen Jungs dort waren, und diese bösen Serben machen ihnen das Leben schwer“. Alles drehte sich um die holländischen Soldaten und nicht um die bosnische Bevölkerung.

Wouter K., Médecins Sans Frontières, Niederlande

Bis zum 13. Juli bringen serbische Truppen Tausende männliche Bosniaken in serbisches Gebiet rund um die Stadt Bratunac, sperren sie in Lagerhallen und Schulen. Noch am gleichen Tag fahren sie die ersten Gefangenen mit Bussen an abgelegene Orte, reihen sie auf – und erschießen sie.

Mein Mann küsste die Kinder. Schluchzend nahm er den Ältesten in die Arme und sagte: „Mein Sohn, vielleicht siehst du deinen Vater nie wieder. “ Er weinte, dann nahm er seinen Jüngsten, Omer, in die Arme und sagte: „Mein Sohn, vielleicht siehst du deinen Vater nie wieder. “ Der ganze Krieg, alles, was wir durchgemacht haben, war nicht so grausam wie dieser Abschied, dieses Lebewohl. Er ging zum Jüngsten, dann nach hinten. Er stand am Zaun, weinte. Dann ging er weg.

Nach einem stundenlangen Fußmarsch versammelten sich alle von uns, die am 11. Juli aus Srebrenica geflohen waren, bei Kamenica, etwa 60 Kilometer von Tuzla entfernt. Ich dachte, wir würden uns ein wenig ausruhen, aber wieder einmal setzten Schüsse ein. 1000 Männer wurden auf der Stelle niedergemäht. Denen, die sich an der Spitze der Kolonne befanden, gelang die Flucht in den Wald.

Außer Sichtweite hörten wir stundenlang serbische Stimmen aus den Lautsprechern. Sie versprachen Sicherheit, Schutz und Essen. Sie sagten, sie würden uns nichts tun und wir sollten aus unseren Verstecken kommen. Da sämtliche Straßen von Panzern blockiert waren, blieben uns nur zwei Möglichkeiten: im Wald bleiben oder aufgeben und getötet werden. Wer aufgab, wurde aufgefordert, sich an seine Verwandten zu wenden, um sie ebenfalls zum Aufgeben zu bewegen.

Männer riefen die Namen ihrer Väter, Söhne, Brüder; sie versicherten ihnen, dass sie nichts zu befürchten hätten und dass die Serben ihnen nichts zuleide tun würden. Dieser Tag war der blutigste von allen für die Kolonne.

Später erfuhren wir, dass sie am 13. Juli Tausende von Männern gefangen genommen, gefoltert und anschließend getötet haben.

Wir hatten uns im Wald verirrt, wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Serbische Soldaten riefen durch ein Megafon: „Kommt raus oder ihr werdet getötet. Ihr werdet gemäß der Genfer Konvention behandelt. “ Barfuß, ausgehungert, durstig, erschöpft, verängstigt und unsere Verwundeten tragend, gingen wir am 13. Juli raus auf die Straße.

Die serbischen Soldaten verhielten sich korrekt, bis wir uns ergaben. Rund 2000 Männer und Jungen wurden auf Lkw verfrachtet und in den Tod gekarrt. In den abgedeckten Lastwagen wurden wir in verschiedene Richtungen gefahren und dann zu einem Feld gebracht, wo wir erschossen werden sollten.

Vom weißen Haus in Potocari brachten sie uns zu Bussen, die uns nach Bratunac zur alten Schule fuhren. Wir gaben sämtliche Taschen und unser gesamtes Essen ab. Und wer auch immer eine Uhr, eine Tabakdose oder einen Nagel, ein Messer, eine Rasierklinge bei sich hatte, den Besitz solcher Sachen haben sie uns streng verboten. Ein Serbe, eine Art Polizist, kam und fing an, einen Mann zu schlagen, mit seinem Gewehr schlug er ihm von oben auf den Kopf. Blut strömte über sein Gesicht und sein Hemd.

Ungefähr eine Stunde lang blieb dieser blutende Mann unter uns, bei uns. Eine Stunde später erschien der Serbe wieder an der Tür und winkte ihm zu – zeigte mit dem Finger auf ihn und brüllte: „Du kommst mit raus. “ Der Mann zögerte, aber er musste aufstehen und hinausgehen. Wir hörten nur seine Schmerzensschreie, und Stöhnen, und wie die Stimme immer schwächer wurde, als das Leben langsam aus ihm wich.

Und das geschah dann ständig. Sie wurden weggebracht – gleichgültig, ob es Tag oder Nacht war. Man hörte nur Schmerzensschreie, Stöhnen. Ich traute mich nicht, aus dem Fenster zu schauen, weil man sonst beschossen wurde. Man musste sich hinlegen, um nicht durch das Fenster erschossen zu werden.

Die Klassenzimmer waren voller Gefangener aus Srebrenica. Als ich hineinging, sah ich zwei zusammengeschlagene Männer auf dem Boden liegen. Sie waren blutverschmiert und zeigten keine Lebenszeichen. Die Fenster in dem Klassenzimmer waren geschlossen; wir saßen nebeneinander auf dem Fußboden. Tische und Stühle gab es nicht. Nur die Tafel stand noch da. Dort wurden wir verhört und misshandelt. Ich zog mich aus und legte meine Papiere auf einen Haufen. Unsere Kleider mussten wir auf einen anderen Haufen legen. Die Hosentaschen mussten nach außen gekehrt werden. Außerdem mussten wir unsere Schuhe und Socken ausziehen. Sie fesselten uns die Hände auf dem Rücken und schlugen uns wieder. Danach brachten sie uns in eine andere dunkle Ecke.

Dort hielten sie uns eine Weile, gefesselt. Später am Abend mussten wir gefesselt, nackt und barfuß auf einen Lkw klettern. Zuvor mussten wir eine Treppe nach unten rennen und kamen an einem Stockwerk vorbei, wo ich ebenfalls viele tote Männer und Blut auf dem Fußboden sah. Die Lkw standen vor der Tür zum Treppenhaus. Sie fingen an, uns auf den Rücken zu schlagen. Sie schossen auf unsere Füße, und viele wurden verwundet.

Ich hörte den Oberstleutnant sagen, die Busse seien unterwegs. Dann kam Brano Gojkovic und erklärte uns, es würden Busse mit Zivilisten aus Srebrenica kommen. Ich und ein paar andere erhoben Einspruch, wir sagten: „Was sollen wir denn hier tun?“ Und er sagte, wir würden diese Leute erschießen müssen.

Dražen E., bosnisch-serbischer Soldat

Vor der Exekution wurden wir gezwungen, uns auszuziehen. Einer der Soldaten fesselte uns die Hände auf dem Rücken. In diesem Moment wurde mir klar, es war das Ende.

Auf dem Lkw versuchte ich mich hinter den Männern zu verstecken, weil ich noch ein paar Sekunden leben wollte. Die anderen machten das gleiche. Schließlich musste ich hinausspringen. Man befahl uns, uns in Fünferreihen aufzustellen. Ich dachte, ich würde schnell sterben, ohne leiden zu müssen, und dass meine Mutter nie erfahren würde, wo es mit mir zu Ende ging.

Im gleichen Moment begannen sie, uns in den Rücken zu schießen.

Den Männern vor uns befahl man, uns den Rücken zuzukehren. Als sie mit dem Rücken zu uns standen, haben wir auf sie geschossen. So wurden Gruppen hergeführt: Die Männer drehten uns den Rücken zu, und wir haben die Gruppe erschossen, die vor uns stand.

Ich wusste nicht, ob ich das Bewusstsein verlor, aber ich lag blutend und zitternd auf dem Bauch. Man hatte mich im Bauch und am rechten Arm getroffen. Das Schießen ging weiter, und ich sah, wie reihenweise Männer umfielen. Ich hörte und spürte die Kugeln um mich herum einschlagen. Wenig später wurde ich schwer am linken Fuß verwundet. Die Männer um mich herum starben, ich hörte ihr Todesröcheln. Ich dachte, ich sterbe vor Schmerz, und mir fehlte die Kraft zu rufen, dass sie mich töten sollen.

Man konnte hören, wie Kugeln in Körper schlugen, die Erdstücke, die herumflogen, Steine auch, auf meinem Rücken, Staub überall. Ich konnte alles fühlen, denn ich hatte nur ein Hemd an.

Es waren viele Tote. Ich weiß nicht, wie viele, aber sehr viele. Und irgendwann habe ich den Kopf etwas gehoben und gesehen, dass sich ein oder zwei Reihen vor mir jemand bewegt. Der war vielleicht zwei, drei Meter von mir weg. Und ich konnte sehen, dass er sich bewegt, und ich fragte ihn: „Lebst du?“ Ich habe geflüstert.

Er antwortete: „Ja, ich lebe. Komm her und binde mich los. “ Und ich sagte: „Ich kann nicht, ich bin verletzt. “ Aber er rief immer wieder nach mir. Und ich wälzte mich über die Toten. Das habe ich so lange gemacht, bis ich zu dem Mann kam, der noch am Leben war.

So habe ich es geschafft, bis vor seinen Mund zu kommen. Er war zwischen Leichen eingeklemmt. Ich wusste, dass er nicht aufstehen konnte.

Er hat die Fessel nicht aufgeschnitten, sondern sie mit seinen Zähnen durchtrennt, er war stark.

Ich wusste nicht, woher die Schüsse kamen. Ich fiel zwischen die Toten, andere fielen auf mich drauf. In vollem Bewusstsein, was da vor sich ging, vergrub ich mich tiefer zwischen den Toten.

Ich bin gekrochen, manchmal auch an einem Stock gehüpft, auf einem Bein. Ich habe Motorengeräusche gehört, und ich sah einen Bulldozer, der die Toten auf die Schaufel nahm und auf etwas auflud. Ich weiß nicht, ob das ein Traktor war oder ein Lastwagen. Aber es war ein großer Berg Leichen. Nachdem ich tagelang gelitten hatte, durch Wälder geirrt war, mich in Flüssen versteckt und auf Friedhöfen geschlafen hatte und unter schrecklichen Schmerzen weitergekrochen war, erreichte ich schließlich das von der bosnischen Regierung kontrollierte Territorium. Mein Vater, mein Onkel und meine Verwandten, die im niederländischen UN-Stützpunkt in Potocari Schutz gesucht hatten, haben alle nicht überlebt.

Die Erschießungen dauern noch bis zum 18. Juli 1995 an. Um die Morde zu verschleiern, betten Serben die Körper später teilweise um. Schon bald beginnen Ermittler des eigens für den Jugoslawienkrieg geschaffenen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag mit der Untersuchung der Taten. In den folgenden Jahren finden sie Dutzende Massengräber; bis Anfang 2019 werden mehr als 8000 Opfer identifiziert.

Mehrere Untersuchungsberichte thematisieren auch die Rolle des Dutchbats: Die niederländischen Soldaten seien in einen nicht zu bewältigenden Einsatz geschickt worden und hätten unbeabsichtigt an „ethnischen Säuberungen“ mitgewirkt.

Besonders eine Studie vom Frühjahr 2002, nach der die Blauhelme den Massenmord durch bewaffneten Widerstand möglicherweise hätten verhindern können, löst in den Niederlanden Bestürzung aus. Ministerpräsident Wim Kok bricht nach der Lektüre angeblich in Tränen aus. Wenig später tritt seine Regierung geschlossen zurück.

General Ratko Mladic und Radovan Karadžic, dem politischen Führer der bosnischen Serben, sowie dem ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic und weiteren für die Massaker Verantwortlichen wird, mitunter nach jahrelanger Flucht, in Den Haag der Prozess gemacht. Miloševic stirbt 2006 vor Abschluss des Verfahrens, Mladic wird im November 2017 zu lebenslanger, Karadžic zu 40 Jahren Haft verurteilt.

In Srebrenica leben heute Serben und Bosniaken nebeneinander, noch immer in Feindschaft.

Eine ernsthafte Aufarbeitung des Massakers hat dort nicht stattgefunden. Der Bürgermeister, ein Serbe, behauptet, es habe nie einen Völkermord gegeben.

Die Überreste meines Vaters wurden 2002 in einem Massengrab in Srebrenica identifiziert. Später hörten wir von meinem Bruder. Er wurde nur 19 Tage vor seinem 20. Geburtstag ermordet.

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